Leseprobe „Der Steindrache“

„Meine Eltern lassen sich scheiden.”

Ruckartig hob Felix den Kopf. Was hörte er da?

„Bitte … was?”

Alexa kickte mit einer wütenden Bewegung einen Kieselstein ins Gebüsch. Man hätte meinen können, der Stein hätte ihr etwas angetan, so heftig stieß sie ihn fort.

„Du hast schon richtig gehört. Meine Eltern lassen sich scheiden.”

Felix schwieg. Was sollte er auch sagen? Alexas Familie war nicht wie die seine. Bei ihnen lief der Fernseher, dass die Wände bebten. Bierflaschen stapelten sich im Flur und der Mülleimer war voll leerer Zigarettenschachteln. In der Küche gab es oft lautstarke Auseinandersetzungen, und es interessierte die Eltern nicht, ob die Kinder alles mitbekamen. Manchmal lachten sie auch dröhnend miteinander, öfter aber herrschte ihr Vater ihre Mutter mit barschen Worten an und sie gab mit schriller Stimme Kontra. In solchen Fällen verzog Alexa das Gesicht und verließ mit Felix die Wohnung.

Er ging ungern zu ihr. Der Lärm schüchterte ihn ein und er mochte den Geruch nicht, der von der Küche bis in den Flur und hin zu Alexas und Freddys gemeinsamen Zimmer zog. Gebrüll, abgestandene Luft, saurer Bieratem und Zigarettendunst – das war es, was er mit ihrem Zuhause verband.

Unsicher öffnete er den Mund, klappte ihn aber wieder zu. Jetzt musste er gut aufpassen, was er sagte. Alexa war empfindlich, was ihre Familie anging.

„Warum?”, stieß er schließlich hervor. Seine Stimme war kratzig und wollte ihm nicht gehorchen. Nie hätte er damit gerechnet, dass Alexa heute so ein Thema zur Sprache brachte. Ausgerechnet an ihrem Geburtstag.

„Warum, warum! Weil meine Mutter einen anderen Mann hat, darum! Sie will nicht mehr bei uns leben, sondern mit diesem Typ fortgehen. Wir bedeuten ihr überhaupt nichts mehr!” Alexa schaute starr nach vorne und schlug einen immer schnelleren Schritt an, sodass Felix ihr kaum folgen konnte.

„Warte, renn doch nicht so! Was soll das denn heißen, ich meine …” Felix verschlug es erneut die Sprache. Langsam kam ihm die Erkenntnis, was diese paar Worte für seine Freundin bedeuteten.

„Sie ist schon weg. Heute Morgen ausgezogen. Nachdem sie mir alles Gute zum Geburtstag gewünscht hat.” Alexa schniefte und wischte sich gleich darauf mit dem Ärmel über die Nase. Normalerweise machte sie so etwas nicht. Aber Felix hatte im Moment vollstes Verständnis dafür.

„Oh du lieber Himmel. Das ist … das ist … furchtbar.” Eigentlich hatte Felix gedacht, sie würden den Nachmittag zusammen verbringen. Es war wunderschönes Wetter, ein sonniger Tag Ende Juni, und seine Mutter hatte ihn gebeten, Alexa zum Mittagessen mitzubringen. Anschließend, hatte er sich überlegt, würde er Alexa gerne zur Feier des Tages zu einem Eis einladen. Dass sie ihren Geburtstag nicht richtig feiern würde, war ihm klar gewesen, doch was nun geschehen war, änderte alles. „Alexa, ich …” Er stotterte hilflos. Hunderte Fragen lagen ihm auf der Zunge, aber er brachte keinen anständigen Satz heraus.

„Lass gut sein, Felix.” Alexa hatte sich wieder im Griff. Sie drehte sich zu ihm um. Ihre Lippen waren fest aufeinandergepresst und ihre Augen starrten ihn hart an. „Ich werde jetzt nach Hause gehen. Freddy weiß es noch gar nicht, weil er erst heute Abend von seiner Lehrstelle kommt. Und mein Vater … ob der auftaucht, steht in den Sternen. Es ist mir jetzt ganz recht, wenn ich ein bisschen alleine bin.”

„Bist du sicher?”, fragte Felix und hob die Schultern. „Heute ist doch dein Geburtstag. Ich meine, wir könnten doch … vielleicht brauchst du jemand zum Reden, also ich wollte eigentlich …” Herrje, warum schaffte er es nicht, vernünftig zu sprechen? Er nahm einen neuen Anlauf. „Eigentlich hat meine Mutter dich zum Mittagessen eingeladen. Weil doch heute dein Geburtstag ist. Außerdem wollte ich mit dir zu Arapelli Eis essen gehen. Ein bisschen feiern.” Er lachte verlegen. „Okay, Geburtstag feiern ist unter den Umständen wohl nicht angebracht, aber vielleicht täte es dir gut, wenn jemand zum Reden da wäre? Was willst du denn in der leeren Wohnung machen?” Er stockte und dachte daran, dass seine Mutter fast jeden Tag mit dem Mittagessen auf ihn und Laurin, seinen älteren Bruder, wartete. Zwar würde sie heute Nachmittag wieder arbeiten gehen, doch mittags war sie da. Mit einem Mal war er unendlich dankbar, dass es so war und nicht wie bei Alexa.

„Felix, ist schon gut. Sag deiner Mutter danke, aber heute geht es nicht.” Alexas Lippen waren farblos und zwischen ihren Augenbrauen stand eine Falte. Sie sah zum Fürchten aus. Sie drehte sich auf dem Absatz herum und ließ ihn stehen.

Felix starrte ihr hinterher, wie sie mit wehendem blondem Pferdeschwanz davonging. Sie trennten sich immer nach der Schule hier am Bahnübergang, das war nichts Besonderes. Alexa ging in ihren heruntergekommenen Stadtteil mit den hohen, schäbigen Straßenschluchten und er in sein gehobenes Viertel, das mit den Einfamilienhäusern mit großen Vorgärten. Aber heute, ausgerechnet an ihrem Geburtstag, mussten sie so auseinandergehen.

Schließlich wandte er sich um und trottete alleine nach Hause.

Laurin, der nicht wie Felix gelaufen, sondern mit dem Bus heimgefahren war, öffnete ihm die Tür. „He, was ist los? Du machst ja ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter!”

Auch seine Mutter, die in der Küche zugange war, schaute irritiert durch den Türrahmen. „Wo ist denn Alexa? Ich dachte, du bringst sie mit?”

Felix überlegte kurz, ob er die schlechten Neuigkeiten erzählen durfte. Aber eine so weitreichende Sache wäre sowieso nicht lange zu verbergen.

„Alexa …”, fing er an. Seine Mutter unterbrach ihn. „Felix, sei so lieb, komm zu Tisch. Das Essen wird sonst kalt. Du kannst es uns dort in Ruhe erzählen.”

Das tat er, und seine Mutter und sein Bruder machten ein bestürztes Gesicht, als sie begriffen, was Alexa heute hatte erfahren müssen.

Laurin war fassungslos. „Das ist doch die absolute Höhe, dass sie es Alexa ausgerechnet an ihrem Geburtstag sagt! Wenn sie noch bis morgen gewartet hätte, hätte sie wenigstens noch einen schönen Tag erleben können!”

„Ich gebe zu, das Timing ist nicht besonders glücklich, aber geändert hätte es auch nichts”, stellte die Mutter nüchtern fest. „Arme Alexa. Irgendwie scheint sie das Unglück anzuziehen. Aber wie ich sie kenne, wird sie sich durchbeißen. So leicht lässt sich Alexa nicht unterkriegen.”

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