Leseprobe Norland 1: Verfolgt

Kapitel 1 – Adreana

Adreana kniff die Augen zusammen und tastete nach Suzas Hand. Die Straßenlaternen leuchteten durch die regenschwere Dunkelheit, vereinzelt wirbelten gelbe Blätter durch die Luft.
»Mami», wisperte Suza. »Warum schreien die Leute dort vorne so laut?«
Adreana spähte durch die Dunkelheit. Die Rufe klangen gedämpft, als ob die Männer noch weiter weg wären. Es waren nur Männerstimmen, das beunruhigte sie, doch sie bemühte sich, ruhig zu bleiben. Sie wollte nicht irgendwelchen Säufern begegnen, die sich bis morgens früh in einer Kneipe zugeschüttet hatten. Noch dazu kamen die Stimmen rasch näher und gehetzte Schritte klatschten über den Asphalt.
»Ich weiß es nicht, Mäuschen.« Sie hielt inne, überlegte, ob sie einen anderen Weg zum Kindergarten wählen sollte. Aber das würde einen Umweg von über zehn Minuten bedeuten. Nein, es war sowieso zu spät. Die Schreie erklangen schon ganz nah.
»Rasch, Suza. Wir gehen auf die andere Straßenseite. Dort können wir uns hinter den Bäumen verstecken, bis sie wieder weg sind.«
Sie packte die Hand ihrer Tochter fester und rannte mit ihr über die Straße. Auf dem Gehweg gegenüber fühlte sie sich sicherer. Hohe Kastanienbäume breiteten schützend ihr Geäst über ihnen aus.
Gerade noch rechtzeitig drückten sie sich an einen dicken Stamm und verschmolzen vor etwaigen Blicken mit der Umgebung. Die Dunkelheit des frühen Morgens tat ihr Übriges, um sie hoffentlich sicher zu verbergen.
Als die Männer um die Ecke stürmten, fuhr Adreana zusammen und drückte Suza noch enger an sich. Nein, das waren keine Trunkenbolde. Ein älterer Mann rannte, was das Zeug hielt, vor drei jüngeren davon. Noch hatte er einen kleinen Vorsprung, aber es war abzusehen, wie die Sache ausgehen würde.
Der alte Mann stürmte über die Kreuzung, sprang auf den Gehweg – und einer der Typen schleuderte etwas auf seinen Rücken. Es sah aus wie ein Rucksack, bestimmt nicht sehr schwer, aber es reichte aus, um den Mann ins Straucheln zu bringen. Schwer stürzte er zu Boden, und seine drei Verfolger stießen einen Triumphschrei aus.
In Sekundenschnelle waren sie über ihm.
Aber der alte Mann handelte rasch. Er wälzte sich auf den Rücken, zog einen Gegenstand unter seiner Kleidung hervor und richtete ihn auf die drei. Sie fuhren zurück.
»Sofort Stopp!«, keuchte der Ältere mit überraschend kräftiger Stimme. Die Männer traten einen Schritt zurück, sichtlich verunsichert. Alle atmeten schwer vom Rennen.
»Du bluffst«, sagte einer der drei. »Zack, ist das eine echte Pistole? Die sieht so klein aus.«
Adreanas Herz raste. In was für eine Situation war sie da hineingeraten! Sie hielt Suza fest an sich gedrückt und hoffte, dass die Kleine die Waffe nicht gesehen hatte. Vorsichtig verlagerte sie ihr Gewicht und schob ihre Tochter ein Stück mehr hinter den Stamm. Dann wagte sie erneut einen Blick. Der junge Mann, der gesprochen hatte, schien etwa so alt wie sie zu sein. Sein Kopf war kahlgeschoren und seine dunklen Augen blitzten wütend im diffusen Licht der Straßenlampe. Er war der kleinste der drei Angreifer, aber dennoch muskulös wie ein Ringkämpfer.
»Sie ist echt.« Der Alte lag immer noch am Boden. Nun stand er vorsichtig auf, immer die Waffe auf seine Verfolger gerichtet.
Die drei tauschten unsichere Blicke.
»Ihr werdet jetzt hier stehenbleiben«, sagte der alte Mann. »Wagt es nicht, einen Finger zu rühren. Ich werde nicht zögern, auf euch zu schießen. Ich weiß, was ihr für ein Pack seid. Um euch ist es nicht schade.«
Er ging Schritt für Schritt rückwärts, die Waffe drohend erhoben. Die jungen Männer standen wie erstarrt. Ihre Haltung verriet, dass sie sich nur schwer beherrschen konnten, sich nicht erneut auf den alten Mann zu stürzen. Aber offenbar hatten sie doch Respekt vor der Waffe, sodass es ihm gelang, unbehelligt eine Eingangstür der Häuserreihe zu erreichen und den Schlüssel hervorzuziehen.
Einer der Angreifer knurrte hörbar und sofort richtete der Rentner die Pistole auf ihn. »Stehenbleiben!«
Seine Stimme klang kalt, die Situation war immer noch angespannt. Adreana hielt den Atem an. Doch der Alte hatte das Schloss inzwischen entsperrt, drückte mit dem Rücken die Tür auf, schlüpfte durch den Spalt und war verschwunden.
Die drei jungen Männer stöhnten auf. Der große Bullige drehte sich herum und boxte den Kahlgeschorenen frustriert in die Rippen. »Verdammt! So eine Scheiße!«, brüllte er.
»He!« Der Kahlkopf blitzte ihn wütend an. »Lass deinen Frust nicht an mir aus, Idiot! Wieso hast du ihn nicht aufgehalten?«
»Hast du Tomaten auf den Augen? Der hatte ’ne Pistole!«
»Und ihr beiden Schlauköpfe?«, höhnte der Kahle. »Wo sind denn eure Waffen? Drei gegen einen, man fasst es nicht!« Er schlug sich theatralisch gegen den Kopf.
»Gabriel hat recht«, sagte der dritte. »Wieso hast du deine Waffe nicht mitgenommen?«
»Und du deine?«, gab der Bullige gereizt zurück. »Mensch, hat man ahnen können, dass der Alte so schnell rennen kann? Und noch dazu bewaffnet ist? Das hätte ein leichter Auftrag sein sollen!«
Die beiden anderen schwiegen.
»Ist jetzt egal«, sagte der Bullige schließlich. Seine wulstigen Lippen verliehen ihm etwas Verschlagenes. »Wir wissen sowieso, dass er hier wohnt. Er kann uns nicht entkommen.« Ein Grinsen verzog sein Gesicht.
Adreana schauderte in ihrem Versteck. Sie konnte hier nicht weg, ohne dass die Männer sie sahen. Und mit jeder Minute, die Suza und sie hier verbrachten, stieg die Gefahr, dass sie entdeckt wurden. Wieder musterte sie die drei. Obwohl der Kahlkopf, der Gabriel hieß, voller Aggressivität zu sein schien, spürte sie, dass dieser bullige Typ wesentlich gefährlicher war. Der dritte, ein hagerer drahtiger Kerl mit einer Kappe über dem Kopf, lachte ebenfalls. Als wären sie Jäger, deren Beute unwiderruflich in der Falle saß.
Suza neben ihr stupste sie an. »Sollen wir weitergehen, Mami?«, wisperte die Fünfjährige.
»Nein«, flüsterte Adreana und beugte sich zu ihr hinab. Die Kleine war zum Glück so verständig, dass sie nicht anfing zu jammern. »Das sind böse Menschen. Wir warten lieber, bis sie fort sind. Sei ganz leise, Suza, damit sie uns nicht hören.«
Suza nickte ernsthaft. Wieder wandte Adreana ihre Aufmerksamkeit den drei jungen Männern zu. Was hatten sie von dem alten Mann gewollt? Was auch immer es war, hoffentlich verschwanden sie jetzt.
Eine schwarzweiße Katze erschien plötzlich an der Ecke, wo die drei immer noch standen und unschlüssig das Haus ansahen, in dem der alte Mann verschwunden war. Der Bullige trat mit aller Kraft nach dem Tier.
Sein Frust wurde noch größer, als die Katze ohne Anstrengung auswich und gemächlich über die Fahrbahn schlenderte.
»Verdammtes Vieh!«
Die beiden anderen lachten, sodass der Bullige wütend gegen die Hauswand trat.
Als die Katze direkt auf sie zukam, erstarrte Adreana und quetschte die Hand ihrer Tochter, sodass diese unwillig protestierte. »Bitte, ganz ruhig!«, flehte Adreana.
»Du tust mir weh, Mami!«, wisperte Suza und rüttelte an ihrer Hand. Erschrocken ließ Adreana lockerer. Die Katze hatte sie erreicht und strich um Suzas Beine. Die Kleine entzog ihr ihre Hand vollständig, ging in die Hocke und streichelte das Tier. Angespannt beobachtete Adreana die beiden und warf dann einen Blick auf die Straßenseite gegenüber. Hatten die jungen Männer sie bemerkt?
Aber die waren ganz mit sich selbst beschäftigt. Gabriel war zum Nachbarhaus gegangen. Prüfend rüttelte er an dem Baugerüst, das die gesamte Fassade bis hoch ins dritte Stockwerk einfasste.
»Lass es, Bruder«, rief der Hagere. Seine Stimme klang genervt. »Wir knöpfen uns den Alten heute Nacht vor. Der hat keine Chance. Los, wir verschwinden jetzt.«
»Ich hol ihn mir«, knurrte Gabriel und setzte den Fuß auf die erste Querverstrebung.
»Hör auf mit dem Quatsch! Der hat eine Waffe, schon vergessen? Kein Aufsehen, du kennst die Regeln!» Der Hagere mit der Kappe kam heran und wollte ihn herunterziehen, aber Gabriel war schon höher geklettert. Das Metall unter seinen Stiefeln gab helle Töne von sich.
»Zum Donnerwetter, Gabriel!«
»Lass ihn doch, Rick. Dein kleiner Bruder muss unbedingt beweisen, was für ein Draufgänger er ist.« Der Bullige grinste, und der Hagere namens Rick schnaubte. »Ein Idiot ist er, sonst nichts.«
»Du kommst eh nicht rüber«, rief der Hagere nach oben, aber Gabriel ließ sich nicht beirren. Mit verzerrter Miene kletterte er höher. Den bequemeren Weg über die Leitern ignorierte er.
»Da hinten kommen Leute«, rief Rick und sein Gesicht wurde noch finsterer.
»Ist mir egal.« Gabriels Atem ging rasch. Er hatte den zweiten Stock erreicht und ging mit polternden Schritten über die Bretter zum Ende des Gerüsts. Er bemühte sich nicht einmal, leise zu sein.
Im Haus nebenan erschien plötzlich ein weißes Gesicht am Fenster. Der Rentner! Adreana hielt den Atem an. Der alte Mann blickte nach unten, er schien die Gefahr von der Seite zunächst nicht zu bemerken. Doch im Prinzip konnte Gabriel auch nichts erreichen. Das Fenster war von dem Gerüst zu weit entfernt, als dass er dorthin gelangen konnte. Außerdem war es geschlossen. Hatte Gabriel etwa vor, es einzuschlagen?
Als der Rentner seinen Gegner bemerkte, zog er sofort den Vorhang vor und verschwand. Holte er jetzt seine Waffe? Adreana atmete nervös, doch im gleichen Moment, als Gabriel eine Holzlatte ergriff, öffnete sich das Fenster und der Alte versuchte, die Fensterläden heranzuziehen und zu schließen.
»Hab ich dich!«, brüllte Gabriel und stürmte mit erhobener Latte ans Ende des Gerüsts.
Er übersah die Plastikplane, die auf dem Boden des Bretts lag, über das er heranstürmte. Das Ende der Folie baumelte über die Kante und zitterte sanft im Rhythmus von Gabriels Schritten. Ein Film aus Regentropfen verwandelte die Plane in eine tödliche Rutschbahn.
Auf Brusthöhe war das Gerüst mit einer Querstange gesichert, nicht aber im Bodenbereich. Gabriel riss es die Füße nach vorne, er stürzte, schlitterte über die Kante und fiel in die Tiefe.

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