KAPITEL 1 – ADREANA
Schweiz. Ein merkwürdiges Phänomen beschäftigt die Behörden in der Ostschweiz. Im Älplisee, einem bekannten Ausflugsziel bei Arosa auf 1200 m Höhe, wurde eine unbekannte schwarze Masse entdeckt, die sich von der Seemitte in Richtung Ufer ausbreitet. Die Substanz scheint giftig zu sein, da etliche tote Fische auf der Wasseroberfläche trieben. Bei dem Versuch, die schwarze Substanz zu untersuchen, ist ein Umweltexperte ums Leben gekommen. Feuerwehr und Polizei haben das Gebiet weiträumig abgesichert und warnen die Bevölkerung eindringlich vor Wanderungen in dem entsprechenden Gebiet.
Adreana runzelte die Stirn. Eine unbekannte schwarze Masse, was sollte das sein? Noch dazu tödlich. Was für eine seltsame Meldung. Sie rollte die Zeitung ordentlich zusammen und fasste Suza wieder an der Hand. »Komm, Mäuschen«, sagte sie zu der Fünfjährigen und gemeinsam stiegen sie die Holztreppe hinauf zu Arions und Sebastians Wohnung.
»Gibst du mir bitte mein Croissant?« Suza warf einen begehrlichen Blick auf die Leckereien in der Papiertüte, die Adreana zusammen mit der Zeitung in der Hand hielt.
»Du bekommst es gleich. Bestimmt hat Sebastian den Tisch schon gedeckt. Aber jetzt bleibt die Tüte noch zu.«
Suza verzog das Gesicht und brummte unwillig, aber als Blanche, die schneeweiße Nachbarskatze, plötzlich um ihre Füße strich und miaute, war das Croissant vergessen.
Ohne dass Adreana klingeln musste, ging die Tür auf und Arion lächelte sie an. »Guten Morgen!«
Hager und groß stand er vor ihr, seine dunklen Kringellocken fielen ihm fast über die Augen und ließen ihn unbeschwert und heiter aussehen. Adreana fühlte sich auf einmal sehr einsam. Er schien es mühelos verkraftet zu haben, dass sie die Wohnung hinter dem Fotoladen verlassen hatte, um in ihre eigenen vier Wände zu ziehen. Lag ihm denn nichts an ihr?
Sie krauste die Nase. Was für Gedanken sie hatte. Arion war immer freundlich und nett zu ihr, fast zu nett. Aber das, was sie sich wirklich wünschte und gleichzeitig fürchtete, entwickelte sich nicht zwischen ihnen.
Nun ja, es war besser für sie alle, tröstete sie sich selbst. Der Mann, der sie erobern könnte, müsste schon fast etwas Übermenschliches an sich haben. Obwohl Arion dem schon erstaunlich nahekam …
»Da ist ja mein Suza-Mädchen!« Arion fasste die Kleine unter den Armen und hob sie in die Höhe, sodass sie kreischte und vor Lachen giggelte. Gleichzeitig drückte er ihr etwas Längliches in die Hand und sah verstohlen Adreana an, die amüsiert schmunzelte.
»Seifenblasen!«, jubelte Suza, strampelte sich frei und begutachtete ihr Geschenk beglückt.
»Ist Sebastian da? Ich habe ihm seine Zeitung mitgebracht«, sagte Adreana und hielt die Zeitung samt der Brötchentüte in die Höhe.
»Ich kenne niemand, der noch so altmodisch Zeitung liest«, entgegnete Arion und zwinkerte ihr zu. »Ja, klar. Der Kaffee ist auch schon fertig.«
»Was ist mit Gabriel?«
Kurz umwölkte sich sein Gesicht, bevor er wieder lächelte, doch Adreana hatte es genau gesehen. Er stieß kurz die Luft aus. »Sie haben ihn heute Morgen angerufen. Es ist wohl jemand krank geworden, und er ist eingesprungen. Ich weiß nicht, wann er kommt. Er meinte nur, es könnte spät werden.«
Suza verschwand im Innern der Wohnung, Blanche schoss pfeilschnell hinterher. Adreana schüttelte den Kopf. Immer noch erstaunte sie die Fähigkeit ihrer kleinen Tochter, sich mit den Katzen verständigen zu können. Aber für Suza war es ganz normal.
»Adreana! Wie schön, euch zu sehen!« Sebastian, Arions Großvater, kam ihr mit ausgebreiteten Armen entgegen und drückte sie herzlich. Adreana schloss kurz die Augen und lehnte sich an ihn. Wie schön wäre es, so einen Opa zu haben. In den paar Monaten, die sie nun schon in Annecy lebte, war ihr Sebastian ans Herz gewachsen und sie ihm auch, vermutete sie.
»Als ob wir uns nicht oft genug sehen!« Sie grinste ihn an und überreichte ihm seine Zeitung.
»Ja, aber meist nur zwischen Tür und Angel, Adreana. Für ein Frühstück, so wie heute, kommen wir viel zu selten zusammen. Ihr jungen Leute habt immer so wahnsinnig viel zu tun.« Er ging voraus zum Wohnzimmer, das gleichzeitig auch als Esszimmer diente. Ein schwerer Eichentisch stand am Fenster, sodass man auf die Kanäle hinausschauen konnte, die sich durch die Altstadt wanden. Wenn man sich ein bisschen reckte, sah man sogar ein winziges Stück vom See und die dahinterliegenden Berge.
»Du tust gerade so, als säßest du wie ein alter Rentner zuhause und würdest darauf warten, dass dich jemand besucht.« Arion lachte und rückte für Adreana einen Stuhl zurecht. »Dabei bist du doch derjenige, der ständig fort ist!«
Sebastian schmunzelte. »Nun gut, da ist etwas dran, das muss ich zugeben.«
Sie nahmen alle Platz, auch Suza, der wieder eingefallen war, dass in Adreanas Tüte ihr heißgeliebtes Croissant steckte. Erwartungsvoll guckte sie sie an, und Adreana legte ihr das Gebäck auf den Teller. »Bitteschön!«
»Dankeschön«, krähte Suza und biss hinein. In der anderen Hand hielt sie immer noch Arions Seifenblasen.
Sebastian schenkte ihr Kakao ein, und die anderen tranken Kaffee. Fürs erste waren alle zufrieden.
»Hast du denn inzwischen Erfolg gehabt bei deinen Reisen?«, erkundigte sich Adreana schließlich und legte eine Scheibe Käse auf ihr Brötchen.
Sebastian wiegte den Kopf hin und her. »Nun, wie man es nimmt. Ich bin durch die ganzen Ereignisse im Dezember mit meinen Beobachtungen am Bodensee nicht fertig geworden, wie ihr wisst. Rund um Annecy gibt es offenbar keine anderen Yonu außer uns, aber ich habe eine Frau am Genfer See gefunden, die mir einen Hinweis gegeben hat, dass offenbar in Friedrichshafen am Bodensee noch eine Yonu lebt. Sie waren damals zusammen aus Norland geflohen, am Ufer des Bodensees gelandet – genau wie Konstantin – und zunächst in Friedrichshafen untergekommen. Ich habe nicht ganz verstanden, warum sie sich getrennt haben, es hatte irgendetwas mit den Nor zu tun«, hier schnaubte er wütend, »aber möglicherweise lebt diese Yonu noch dort. Ich werde demnächst hinfahren und nach ihr suchen.«
Adreana seufzte. Sebastian suchte seit dem Untergang von Norland nach gestrandeten Yonu und hatte auch schon etliche aufgetrieben, die quer über Europa verstreut lebten. Seine Suche konzentrierte sich vornehmlich auf die Schweizer Seen und auf den Bodensee, weil er der Meinung war, dass sich hier die meisten Tore von Norland aus geöffnet hatten. Aber dies war nur eine Theorie, wie er einräumen musste. Denn bisher hatte er erschreckend wenig Mitglieder ihres Volkes gefunden. Immerhin, er konnte davon ausgehen, dass die allermeisten wohl in der Nähe von Seen oder zumindest großen Flüssen lebten, vielleicht sogar am Meer. Die Sehnsucht nach Wasser schien den Yonu angeboren zu sein, schließlich stammten sie ursprünglich von einer Vielzahl von Inseln vor dem großen Kontinent von Norland.
Sie fragte: »Wie viele sind wir denn inzwischen?«
Sebastian presste die Lippen zusammen. »Nicht viele. Etwas über vierzig habe ich aufgespürt, uns eingeschlossen.«
»Und wie viele Nor?« Adreana schauderte, als sie an die gnadenlose Verfolgungsjagd im Winter dachte. Damals hatte sie überhaupt erst erfahren, dass sie zu dem Volk der Yonu gehörte, welches in bitterer Feindschaft mit den Nor gelebt hatte – damals in Norland, einem Land, das in einer anderen Realität zu existieren schien. So genau hatte Adreana nie begriffen, wo Norland eigentlich war. Die Feindschaft zwischen den beiden Völkern war so extrem gewesen, dass die Yonu zu einem letzten Mittel gegriffen hatten, um sich zu retten: Sie hatten die Dunklinge freigesetzt, schwarze nebelhafte Wesen, die alles Leben in ihrer Reichweite erstickten und vernichteten. Leider hatten die Yonu es nicht geschafft, diese archaischen Geschöpfe zu kontrollieren. So war es schließlich zum Untergang von Norland gekommen und nur wenige Nor und Yonu hatten sich durch die geheimnisvollen Tore in die Menschenwelt retten können, wo sie bis heute lebten.
»Das Dumme ist«, Sebastian kratzte sich am Kopf, »man erkennt die Nor nicht so einfach. Nicht so wie uns Yonu, und selbst wir sehen den Menschen sehr ähnlich. Gut, die Nor sind groß, größer als wir, und ihr Körperbau ist kräftig. Aber sie haben nicht diese Ringellocken wie wir und nicht diesen scheinbar asiatischen Einschlag der Augen.«
»Zum Glück sind Rick, Zack, Agata und Harvey in Norland verschwunden«, warf Arion ein.
»Aber ihr Butler – wie hieß er noch, Adreana? – lebt noch.«
»Ulbrecht.« Adreana schüttelte sich erneut. »Ein grässlicher Kerl.«
»Er ist in Konstanz nicht mehr aufzutreiben«, sagte Sebastian nachdenklich. »Die Frage ist nun, ob er sich anderen Nor angeschlossen hat oder alleine untergetaucht ist? Wir müssen auf jeden Fall vorsichtig sein.«
»Ich glaube, dass Agata durchaus ein ganzes Netzwerk von Nor hinter sich hatte. Hat Gabriel nicht erwähnt, dass einige Nor sogar bei der Polizei arbeiten?« Adreana begann, auf ihrer Unterlippe zu kauen. Die Erinnerung an die machtbesessene Frau behagte ihr nicht. Sie wusste, dass auch Gabriel Schwierigkeiten gehabt hatte, sie zu lieben, obwohl er damals noch geglaubt hatte, dass sie seine Mutter wäre. Sie hatte ihn auf grausame Art eines Besseren belehrt. Gabriel hatte bis heute Probleme, diese Zeit seines Lebens anzunehmen und haderte immer noch mit seinen Gefühlen. Adreana wünschte sich, dass sie Agata nie wieder zu Gesicht bekommen mussten.
»Es ist auch schade, dass Konstantin mit ihnen durch das Tor verschwunden ist«, sagte Arion leise und warf Adreana einen prüfenden Blick zu.
Sie rollte kurz mit den Augen und sah dann zu Boden. So wie Gabriel sich von seiner Ex-Mutter betrogen fühlte, so sehr grollte sie Konstantin wegen seiner Lügen und seines lieblosen Verhaltens ihr und Suza gegenüber. Aber was sie am meisten belastete, war die immer noch ungeklärte Frage, wer Suzas Vater war. »Ich vermisse ihn auf keinen Fall«, brummelte sie leise.
»Das glaube ich, aber es sind so viele Fragen offen, die nur Konstantin beantworten kann«, stimmte Sebastian zu. »Schließlich hat er es geschafft, dieses eine Tor zu öffnen. Wie hat er das gemacht? Ist es uns möglich, weitere Tore zu öffnen? Wo sind diese Tore? Und vor allem, wie können wir die Dunklinge dazu bewegen, wieder in die Tiefen von Norland abzusteigen, sodass das Land sich erholen kann?« Er stützte die Ellenbogen auf den Tisch und sah Adreana nachdenklich an.
»Wird sich das Land überhaupt regenerieren?,« fragte Adreana leise und sah immer noch nicht auf.
»Auch das wissen wir nicht.«
»Na, wenigstens sind wir nicht mehr in unmittelbarer Gefahr«, sagte Arion und grinste. »Keine Nor weit und breit. Die Tore sind geschlossen, na und? Das ist doch eigentlich gut. Die Dunklinge sind ausgesperrt. Nur Opa kann sich nicht damit abfinden, dass wir von nun ab hier leben müssen.«
Sebastian schüttelte den Kopf. »Ach, Arion, du sprichst mit der Leichtfertigkeit der Jugend. Aber hast du dir einmal überlegt, was geschieht, wenn du eine Familie gründen willst?« Er warf einen Blick zu Suza, die sich inzwischen auf den Balkon begeben hatte und in einem fort Seifenblasen blies. Dabei plapperte sie mit ernsthaftem Gesicht auf Blanche ein. Die weiße Katze schien regungslos zuzuhören.
Adreanas Herzschlag begann sich erneut zu beschleunigen. Sie bemühte sich, es sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie dieses Thema aufwühlte. Sebastian meinte es gut, er dachte an die Rettung seines Volkes und hatte keinesfalls vor, sie zu beleidigen. Aber dass Suza existierte und sie nicht wusste, wer der Vater war, machte sie betroffen und verletzlich. Es musste ein Yonu gewesen sein, soviel hatte sie inzwischen begriffen, denn eine Vermischung der Rassen, sei es Mensch und Yonu oder Nor und Yonu, brachte kaum lebensfähige Kinder hervor. Gabriel, der als Vater in Frage gekommen wäre, war aber bereits als Baby unterbunden worden und somit steril. Wer also war es dann? Sie hatte zum fraglichen Zeitpunkt eben nur mit Gabriel geschlafen und danach, weil sie betrunken gewesen war, einen Filmriss gehabt. Irgendjemand musste sich demnach an ihr vergangen haben – eine andere Möglichkeit gab es nicht. Und der einzige, der dafür in Frage käme, war Konstantin, ihr Stiefvater. Das aber war undenkbar. Oder war jemand anderes unbemerkt in ihr Haus eingedrungen? Warum aber hatten sie dann einen Vaterschaftstest – zwar geschwärzt, aber doch unverkennbar ein Gentest – in Konstantins Unterlagen gefunden?
Adreana schob diese Gedanken weit von sich. Besser, sie dachte nicht darüber nach, wer der Vater ihres geliebten Kindes sein könnte. Mal verzweifelte sie fast, weil sie von Konstantins Schuld überzeugt war, mal wies sie diesen Verdacht weit von sich. Alles war schrecklich, egal wer es gewesen und wie es geschehen war.
Sie spürte eine warme Hand auf ihrer und sah überrascht auf. Arion lächelte ihr unmerklich zu und drückte ihre Finger.
»Ich verstehe schon«, sagte Arion nun laut und zog seine Hand unbemerkt zurück. »Wir sind am Aussterben. Das will ich auch nicht, Opa. Deshalb helfen wir dir ja. Aber unsere Möglichkeiten sind begrenzt. Keiner der Yonu, die du aufgetrieben hast, war im Zirkel der Weisen.«
»Können wirklich nur die Mitglieder dieses Zirkels die Dunklinge besiegen?«, fragte Adreana. »Wie viele Weisen sind es überhaupt?«
Sebastian schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung, etwa fünfzehn vielleicht? Mit derlei spirituellen Dingen musste ich mich damals nicht beschäftigen. Heute ist das anders. Ich vermute nur, dass eines der Mitglieder die Katastrophe heraufbeschworen hat. Er oder sie hat die Dunklinge aus den Tiefen der Erde geholt. Wie das vonstatten ging und wie man es rückgängig machen kann, wissen nur die Mitglieder des Zirkels. Konstantin war einer davon. Er kannte sich mit Quellen aus wie kein anderer. Seine Gabe hatte irgendetwas mit Wasser zu tun.«
»Er konnte Wasser aufspüren«, murmelte Adreana und starrte durch das Fenster auf den Kanal. »Quellen vor allem, aber auch Wasseradern im Boden. Und er konnte die Qualität des Wassers bis zu einem gewissen Grad beurteilen.« Sie stockte, dann fuhr sie gleichmütig fort: »Seine zweite Gabe war es, Menschen zu manipulieren.«
Arion und Sebastian sahen sich an. Dann sagte Arion sanft: »Wir wissen, was er mit dir gemacht hat. Fast hättest du deine eigene Gabe vergessen. Denk nicht mehr daran, Adreana. Er ist jetzt fort, und die Chance, ihn in Norland wiederzusehen, geht gegen Null. Dort sind erstens Agata und ihre Bande, und zweitens die Dunklinge. Und die Tore sind zu.«
Adreana seufzte leise. Sie war versucht zu sagen, dass Konstantin bereits ein Tor geöffnet hatte. Warum nicht auch ein zweites zurück öffnen? Möglicherweise wusste er auch, wie man die Dunklinge besänftigte. Aber sie schwieg und richtete stattdessen ihren Blick vom Fenster weg hin zu Suza, die ans Balkongeländer gelehnt stand, mit den Zehenspitzen auf- und abwippend dicke Blasen produzierte und Blanche aufforderte, sie mit ihren Pfoten zerplatzen zu lassen.
Manchmal hasste sie diese Zusammenkünfte bei Sebastian. Das Gespräch landete immer unweigerlich bei den Nor, den Toren und den Problemen, die die Yonu auf der Erde hatten. Dabei hatte sie mit ihrem Leben in Annecy genug zu kämpfen. Zum Glück hatte sie wenigstens für Suza gleich einen Kindergarten gefunden, der zudem in der Nähe ihrer Wohnung lag. Die Kleine plapperte inzwischen ganz passables Französisch, während sie selbst mit dieser Sprache noch ziemlich zu kämpfen hatte, obwohl sie sie drei Jahre in der Schule gelernt hatte. Deshalb hatte die Buchhandlung, bei der sie sich beworben hatte, sie auch nicht eingestellt, obwohl die Geschäftsführerin es bedauert hatte. Wenn sie gut Französisch sprechen könne, solle sie sich wieder vorstellen, hatte sie gesagt. Und nun war Adreana als Küchen- und Servicehelferin in einem der vielen Restaurants gelandet, wo sie wenig verdiente und viel arbeiten musste. Immerhin hatte sie sich ausbedingen können, dass sie zu Suzas Kindergartenzeiten kommen konnte. Das war nicht selbstverständlich, denn die Arbeit in einem Restaurant ging eigentlich erst um die Mittagszeit richtig los. Aber nun durfte sie frühmorgens schon Gemüse schneiden, die Tische eindecken und andere Arbeiten vorbereiten. Das klappte trotz ihrer mangelnden Sprachkenntnisse ganz gut. Das Beste an ihrem Job aber war, dass das Restaurant nur einen Katzensprung von Arions Haus entfernt lag und dass sie dort eine winzig kleine Zwei-Zimmer-Wohnung gestellt bekommen hatte. Arion hatte Gabriel und ihr zwar die kleine Wohnung hinter seinem Fotostudio angeboten und Adreana wusste, dass er das gerne gemacht hatte. Aber unabhängig zu sein, war ihr seit Suzas Geburt zu einem Bedürfnis geworden.
Zufrieden war Adreana nicht. Gegen sechzehn Uhr holte sie Suza ab, die dann ihre Aufmerksamkeit forderte, und der Haushalt machte sich ebenfalls nicht von alleine. Gabriel hingegen, der in Arions Wohnung geblieben war, hatte ebenfalls mit der Sprache zu kämpfen, aber im Gegensatz zu Adreana war er mit seiner Arbeit – zumindest vorläufig – zufrieden. Er half in einem Sportpark, wo sowohl Fitnessbegeisterte Sport trieben, aber auch Kranke zur Rehabilitation kamen, und der Besitzer hatte ihm in Aussicht gestellt, wenn er ein Jahr durchhielt und die Sprache lernte, könnte er eine Ausbildung zum Sport- und Gesundheitstrainer anfangen. Gabriel war sich noch nicht ganz sicher, ob er das machen sollte, aber immerhin hatte er eine Perspektive. Ganz im Gegensatz zu Adreana.
Aber was half es, darüber zu grübeln. Sie seufzte abermals leise. Abends, wenn Suza im Bett lag, vertiefte sie sich in ihr Biochemiebuch, ihr Buch für Physiologie und ganz neu, ihr Neuroanatomiebuch. Letzteres faszinierte sie besonders, weil sie verstehen wollte, wie ihre Heilgabe funktionierte. Doch bisher hatte sie keine wissenschaftliche Erklärung dafür finden können, wieso sie in der Lage war, ihr Bewusstsein durch den menschlichen Körper zu schicken.
Sebastian schien zu merken, dass das Gespräch für Adreana unangenehm war und wechselte das Thema. Sie redeten noch eine Weile über andere Dinge, und Adreana entspannte sich wieder.
Doch schließlich stand sie auf. Sie wollte mit Suza noch zum See gehen, wo sie eine Arbeitskollegin – ebenfalls mit Kind – treffen würde. Arion verkündete, dass er noch nach unten in sein Fotostudio gehen musste. Dort saß er häufig, selbst an freien Tagen. Er bearbeitete seine Fotos, stellte sie auf seine Internetseite und seine Social Media Kanäle, stellte Rechnungen für seine Kunden aus oder brachte die lästige Buchhaltung hinter sich. Sebastian lächelte die drei an, wünschte ihnen einen schönen Tag und griff nach seiner Zeitung. Sein Gesichtsausdruck wurde ernst. Bedächtig strich er das Papier glatt, lehnte sich am Stuhl zurück und fing an zu lesen.