Wie erreiche ich Identifikation meiner Leser mit dem Protagonisten?

Wie erreiche ich Identifikation meiner Leser mit dem Protagonisten

Die Identifikation des Lesers mit dem Protagonisten ermöglicht ein starkes Mitfühlen mit der Figur und verschafft ihm ein emotional vollgepacktes Leseerlebnis. Muss ich also zwingend Identifikation erreichen?

Sicherlich nicht. Es gibt eine Menge Romane, deren Hauptfigur alles andere als sympathisch daherkommt. Z.B. Jean-Baptiste Grenouille, der Protagonist von Patrick Süskinds Roman Das Parfum.  Dieser Held entspricht überhaupt nicht der sozialen Norm und kaum einer würde sich mit einem Mörder identifizieren. Dennoch funktionieren auch solche Romane und wir empfinden sie als spannend, weil wir die Ziele der Hauptperson nachvollziehen können. Ihr Handeln überzeugt uns trotz aller Abscheu, die wir empfinden. Die Motive und die Gefühle dieses Anti-Helden sind plausibel.

Allerdings gehört schon viel Geschick als Autor dazu, um den Lesern solche Figuren nahezubringen.

Einfacher ist es, tatsächlich über die Identifikation zu arbeiten.

Wie erreicht man Identifikation?

Charaktere müssen interessant und faszinierend sein. Niemand hat Lust, mit uninteressanten (fiktiven) Personen Zeit zu verbringen, deren Handlungsmotive nicht nachvollziehbar sind und die ziel- und wahllos irgendwelche Dinge tun.

Statte deine Hauptfigur mit positiven Eigenschaften aus, die die Leser auch gerne hätten

Beispielsweise könnte deine Heldin mutig, wortgewandt und wahrheitsliebend sein. So wären bestimmt gerne auch viele Menschen.
Oder gib ihr ein umwerfendes Aussehen mit. Diese Eigenschaften sind emotional sehr positiv besetzt, das heißt, sie lösen im Leser starke und gute Gefühle aus.

Dies sind hauptsächlich Charaktereigenschaften. Anders sieht es bei bestimmten Fähigkeiten aus, die erlernt werden müssen. Ein Mensch, der beispielsweise die Fähigkeit hat, verletzte und zerfetzte Leute wieder zusammenzuflicken, löst bei dem einen Bewunderung aus, aber ein anderer wendet sich mit Schaudern ab, weil er kein Blut sehen kann oder sich an einen Metzger erinnert fühlt. Da muss man aufpassen.

Und dann gibt es noch die Eigenschaften bzw. Fähigkeiten, die zwar nützlich für den Plot sein können, aber nicht viele Gefühle beim Leser hervorrufen, etwa, wenn der Held Blumen gut arrangieren kann. Okay, vielleicht mag der eine oder andere diese Kunst ganz sexy finden, aber hm, ehrlich, da gibt es doch andere Eigenschaften, die einen besseren Effekt hervorrufen. Je nach Plot vielleicht auch.

Also bleiben wir bei den emotional besetzten, gut funktionierenden Charaktereigenschaften. Das sind eigentlich gar nicht so viele. Ha. A. Mehler spricht hier von hauptsächlich Attraktivität, Mut, Anstand und Niveau sowie Intelligenz. Dabei musst du keine Angst haben, dass diese Eigenschaften schon in zig anderen Romanen bedient werden. Das ist zwar richtig, aber trotzdem funktionieren die immer gleichen positiv besetzten Eigenschaften wie oben genannt.

Es gibt trotzdem noch eine ganze Reihe anderer positiver Eigenschaften, die je nach deinem Plot von Bedeutung sein können oder nicht. Ich habe hier eine Liste positiver Charaktereigenschaften zum Download als word-Dokument zusammengestellt, die allerdings keinen Anspruch auf Vollständigkeit hat. Wenn dir noch weitere positive Eigenschaften einfallen, schreibe sie gern in die Kommentare, dann ergänze ich die Liste.

Und was eigentlich selbstverständlich sein sollte: Es mag schön sein, wenn dein Held ausgezeichnet Karate beherrscht. Wenn er allerdings diese Fähigkeit im Roman nicht einsetzt, ist sie nutzlos und kann auch weggelassen werden.

Relativiere diese positiven Eigenschaften

Natürlich besteht die Gefahr, dass du Mary Sues bzw. Gary Stues schaffst, wenn die Protagonisten so perfekt dargestellt werden. Im besten Fall denken die Leser: „Hach, so wäre ich auch gerne. Aber der/die ist so perfekt, das schaffe ich nie.” Und dann wenden sie sich genervt/ traurig/ neidisch ab und werfen das Buch in die Ecke. Statt Identifikation und Sympathie wurde Distanz und Ablehnung geschaffen.

Das vermeidest du, indem diese superpositiven Eigenschaften relativiert werden. Wenn ein Mensch, den wir aufrichtig bewundern, irgendeine Schwäche zeigt, fühlen wir uns sogleich getröstet. „Guck mal, der kann sich beim Essen auch nicht beherrschen. Der ist wie ich.” Solche kleinen Schwächen können wir verstehen und nachvollziehen und daher ist in so einem Fall die Gratwanderung zwischen Bewunderung und Identifikation gelungen. Mitfühlen mit den Schwächen eines ansonsten bewunderungswürdigen Protagonisten ist die Basis von Sympathie und schafft Identifikation.

Gib deinem Hauptcharakter außergewöhnliche Eigenschaften

Frage dich ruhig einmal, welche Menschen bei dir einen starken Eindruck hinterlassen haben. Meistens sind es Menschen, die einen starken Willen haben, ungewöhnliche Fähigkeiten, ein starkes Selbstwertgefühl oder Leute, die statt reden einfach handeln und das, was sie machen, mit Leidenschaft tun. Menschen, die ein ungewöhnliches Leben haben, die interessant sind und nicht das tun, was alle tun. Das muss auch nicht allen gefallen, was diese Leute tun, sie können sogar rechte Kotzbrocken und rücksichtslos sein, aber werden eben doch für ihr Handeln bewundert.

Natürlich muss dein Protagonist nicht von Anfang an so eine starke Persönlichkeit haben. Im Roman soll auf jeden Fall eine Entwicklung stattfinden und die würdest du dir auf diese Weise verbauen. Lass ruhig Potential nach oben und verblüffe deine Leser!

Gib deinem Hauptcharakter Ängste und Träume

Statte ihn mit Ängsten oder Schuldgefühlen aus, oder mit Hemmungen. Gib ihm einen Traum, den er erreichen möchte. All das ist für die Leser nachvollziehbar und erleichtert die Identifikation. Diese Träume und Ängste können ruhig widersprüchlich sein, das eben macht das Menschliche und Vielschichtige aus.

Warum hat bei einem Krimi der Kommissar immer Probleme mit Frauen oder raucht wie ein Schlot, obwohl er eigentlich davon wegkommen möchte? Um die Figur menschlicher und glaubwürdiger zu machen, anstatt ein perfekter unnahbarer Supermensch zu sein.

Je mehr dein Leser die Träume oder Ängste der Hauptfigur nachvollziehen kann, desto mehr fiebert er mit, dass sie diese erreicht bzw. überwindet. Sogar mit einem Verbrecher kann man sich auf eine gewisse Weise identifizieren, wenn man seine Gründe nur gut nachvollziehen kann, z.B. die verzweifelte Mutter, die einen Banküberfall plant, weil sie für die lebensnotwendige Operation ihres Kindes das Geld nicht hat.

Ganz wichtig ist, was deine Figur tut, um ihre Ziele zu erreichen. Setzt sie alle ihre Kräfte dafür ein oder handelt sie unentschlossen und zögernd? Ersteres bringt ihr sicher mehr Sympathien durch die Leser ein, allerdings kannst du sie ihre Kräfte auch nach und nach entwickeln lassen. Dagegen spricht nichts.

Der erste Eindruck ist wichtig

Alles, was bisher besprochen wurde, musst du schon beachten, wenn du den Charakter entwirfst. Aber es gibt noch einen weiteren wichtigen Punkt, der dann folgt. Nämlich die ersten Seiten des Romans.

Der Leser entscheidet schon bei der ersten „Begegnung”, also quasi auf der ersten Seite, ob ihm der Protagonist/ die Protagonistin sympathisch ist. Eigentlich wie im richtigen Leben. Bevor der Verstand dazwischenfunkt, entscheidet unser Herz oder der Bauch, oder was auch immer.

Und das ist von entscheidender Bedeutung, denn viele Leser werden das Buch weglegen, wenn sie spontan finden, dass der Held doof ist. Die, die mit einer gewissen Skepsis weiterlesen, werden Schwierigkeiten haben, sich mit ihm zu identifizieren – und das ist es ja, was wir erreichen wollen.

Wie erreiche ich nun einen guten ersten Eindruck?

Meistens fangen Romane mit irgendeinem Problem an. Es wird einem ja von Schreibratgebern ständig geraten, direkt ins Geschehen einzusteigen. Also z.B. die Protagonistin hat in einem Café Streit mit ihrem Freund.

Die Stimmung

So weit, so spannend. Worauf du achten solltest, wenn du die erste Szene entwirfst, ist die Stimmung, die verbreitet wird. Wenn die Heldin das Café wutentbrannt verlässt, zu ihrer Freundin fährt und über ihren Freund schimpft, bringt ihr das vermutlich nicht allzuviel Sympathie von Seiten der Leser ein. Die Stimmung ist wutgeschwängert und aggressiv. Mit einer Person, die so mit ihrem Freund umgeht, wollen wir sicher nichts zu tun haben. Und so geht es vermutlich auch den Leserinnen.

Natürlich brauchen wir den Konflikt, sprich den Streit. Aber die Protagonistin könnte anders damit umgehen. Sie könnte das Café zwar verlassen, aber vielleicht nicht wutentbrannt, sondern traurig. Das bringt ihr Mitgefühl ein, denn so einen Streit hat sicher jeder einmal erlebt. Sie könnte sich überlegen, woran es lag, dass sie gestritten haben. Sie könnte zu ihrer Freundin fahren, sich trösten lassen und wieder optimistisch in die Zukunft blicken. Allerdings Vorsicht, allzu weinerlich sollte sie auch nicht wirken, das stößt eher ab.

Du siehst sicher, worauf ich hinauswill. Die Stimmung ist das Entscheidende in der ersten Szene, die entweder Sympathie weckt oder Antipathie.

Natürlich hängt die Reaktion deiner Protagonistin auch davon ab, wie du sie gestrickt hast. Natürlich darf sie auch impulsiv sein, sogar auch Wut empfinden, aber die Grund-Stimmung in der ersten Szene sollte trotz allem irgendwie positiv sein, vielleicht Hoffnung erwecken, den Konflikt zu lösen. Auf jeden Fall irgendwie optimistisch.

Die Beschreibung des Umfelds

Unterstützen kannst du die Sympathie weckende Stimmung ganz entscheidend mit deiner Wortwahl. Es kommt eben darauf an, wie deine Protagonistin gestimmt ist. Benutzt du hauptsächlich negative Wörter wie grässlich, schäbig, furchtbar, schlecht gelaunt, etc., erzeugst du eine ebensolche negative Stimmung.

Aber selbst wenn die Laune der Protagonistin furchtbar schlecht ist, könnte sie das kleine Café als ein hübsches, gemütliches Café beschreiben. Oder aber als eine schäbige Bude mit mürrisch wirkenden Besuchern. Im ersten Fall wirkt sie trotz ihrer Laune noch sympathisch, im zweiten Fall einfach launisch und schlecht drauf, jedenfalls nicht gerade anziehend.

Das Wetter draußen kann stürmisch, regnerisch oder sonnig sein. Auch regnerisches Wetter kann je nach Einstellung gemütlich wirken. Na gut, das mit dem Wetter ist schon ein arges Klischee!

Deine Protagonistin kann hübsch oder gar elegant angezogen sein oder in ihren Alltagsklamotten unterwegs sein. Von Jogginghosen wollen wir mal lieber nicht reden. Sie kann nervös ihre Hände kneten oder ruhig dahocken.

Die Kellnerin kann kurz angebunden sein oder aufdringlich. Oder sie kann sich ewig Zeit lassen. Oder halt eben freundlich und herzlich sein. Auch hier kommt es darauf an, wie deine Protagonistin ihr Umfeld wahrnimmt.

Du siehst schon, es gibt hunderte Möglichkeiten, die Stimmung in der ersten Szene (und nicht nur in der ersten) in deinem Sinne zu beeinflussen.

Fazit

Kurz zusammengefasst: Entwirf einen tiefen, vielschichtigen Charakter mit sympathischen Zügen, einen, den man bewundern kann, der aber gleichzeitig nicht zu perfekt ist. Weiter achte darauf, dass er gleich in der ersten Szene positiv rüberkommt. Wenn du das schaffst, hast du gute Karten, deine Leser mitzureißen und Identifikation zu schaffen.

Achtest du bewusst darauf, dass deine Hauptfigur sympathisch herüberkommt? Welche Mittel nutzt du, um Identifikation zu erzeugen?

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