Eine sorgfältige Charakterentwicklung und ein ausgefeilter Plot sind die beiden Säulen, auf denen eine gute Geschichte aufgebaut ist. Wenn hier alles stimmt, werden deine LeserInnen mit Freude bei der Stange bleiben. Wie kann man es aber schaffen, so unverwechselbare Charaktere zu entwerfen, dass sie dem Leser im Gedächtnis bleiben?
Tipp 1: Gib deiner Figur eine besondere Sprechweise
Hier fällt mir immer sofort Karla Kolumna ein – gibt es jemand, der sie nicht kennt, die rasende Reporterin von den Bibi Blocksberg- und Benjamin-Blümchen-Hörspielen? Mit vier Kindern kommt man daran nicht vorbei und selbst zu meiner Zeit habe ich sie schon gerne gehört. Karla Kolumna spricht so herrlich übertrieben, dass es eine wahre Freude ist. Gut, du kannst jetzt einwerfen, das ist ein Hörspiel und in einem Roman „hört“ man ja in dem Sinne nichts. Dennoch ist Karla ein wunderbares Beispiel, denn sie hat zusätzlich noch eine ganz unverwechselbare Ausdrucksweise. „Tschüsselchen“, „Hallöchen“ und „Sensationell!“ sind geflügelte Worte von ihr und jeder weiß sofort, dass hier Karla Kolumna spricht. Da müsste man nicht mal ihre Stimme hören. Und wenn du ein wenig kreativ bist, könntest du durchaus die besondere Sprechweise von Karla auch schriftlich einfließen lassen mit Beschreibungen wie rauchige, ausdrucksstarke Stimme, betonte Höhen und Tiefen, gezogene Sprechweise und so weiter.
Übrigens, wo wir gerade bei Bibi Blocksberg sind, auch bei Mutter Barbara höre ich sofort das „Bibilein“, wenn ich an sie denke. Fans von Bibi werden wissen, was ich meine!
Und auf diese Weise solltest du deinen Figuren auch etwas Unverwechselbares in der Sprache mitgeben, seien es besondere Ausdrücke, die die Figur ständig verwendet („Tschüsselchen“, „Hallöchen“, „Sensationell!“, „Bibilein“) oder eine sprachliche Eigenheit wie Stottern oder Lispeln. Oder lass sie Dialekt reden (aber Vorsicht, das mag allerdings nicht jeder Leser und kann, wenn es zu viel und zu übertrieben ist, den Lesefluss stören). Auch die Art, wie sich eine Figur ausdrückt, z.B. besonders hochgestochen oder besonders derb, lässt sie individuell wirken.
Sprachliche Besonderheiten können deine Figuren charakterisieren und greifbarer machen, indem sie z.B. auf eine gewisse soziale Herkunft verweisen oder auf Grundeinstellungen durchblicken lassen. Hier könnte ein Charakter, den du ständig jammern lässt, auf einen schwachen, antriebslosen Menschen hinweisen. Sprache kann auch Antipathie wecken, z.B. mit besonders vulgärer oder brutaler Ausdrucksweise. Oder im Gegenteil Sympathie hervorrufen.
Du siehst schon, besondere sprachliche Merkmale können ein wunderbares Instrument sein, deine Figuren aus der Masse hervorstechen zu lassen, sie dem Leser einzuprägen und um einfach ihre besonderen Charaktereigenschaften zu unterstreichen.
Tipp 2: Gib deiner Figur etwas Unverwechselbares mit
War es nicht Robert Langdon, der von Dan Brown erschaffene Protagonist seiner Bestseller wie Sakrileg und Illuminati, der eine Mickymaus-Armbanduhr besitzt? Dieses kleine Markenzeichen von ihm ist sogar mir im Gedächtnis geblieben. Einer meiner eigenen Protagonistinnen habe ich eine Brille verpasst, die sie ständig in den Händen dreht, putzt, auf- und absetzt und so weiter. Sie ist ein etwas nervöser Charakter…
Im Grunde gilt hier das Gleiche wie oben bei der Sprache: Mit einem Gegenstand, der zu deiner Figur passt, kannst du ihre Charaktereigenschaften hervorheben und unterstreichen. Natürlich solltest du etwas wählen, was auch zur Geschichte passt und nicht willkürlich irgendeinen Gegenstand, der einmal erwähnt wird und dann nie wieder. Er muss eine Bedeutung für die Geschichte und für den Charakter haben, sonst verzichte lieber auf diesen Punkt.
Tipp 3: Gib deiner Figur übertriebene bzw. extreme Eigenschaften mit
Warum lesen Menschen Bücher? Sicher nicht, um eine Fortsetzung ihres tristen Alltags zu erleben. Sie wollen sich in heile, aufregende, schöne, fantastische Welten begeben und Abenteuer erleben. Aber nicht mit Tante Hilda oder dem braven Max Mustermann. Nein, wir möchten über starke, tolle Menschen lesen, die so sind, wie wir auch gerne wären. Also etwas hübscher, fitter, intelligenter, sportlicher, … als wir es im Allgemeinen sind.
Also stelle deine Charaktere ruhig etwas übertrieben dar, das macht sie interessant! Gib ihnen zum Beispiel ein fotografisches Gedächtnis oder lass sie eine extrem talentierte Balletttänzerin sein. Außergewöhnliche Hobbies, beeindruckende Charaktereigenschaften oder außergewöhnliche Fähigkeiten helfen dem Leser, sich mit deinen Figuren zu identifizieren (Hach, so wäre ich auch gern!) und mit ihnen mitzufiebern.
Es geht aber auch andersherum. Dein Antagonist könnte furchtbar jähzornig werden und Tische zerschlagen, wenn ihm etwas gegen den Strich geht. Personen, die Antipathie erregen sollen, kannst du mit Eigenschaften ausstatten, die abstoßend wirken wie Weinerlichkeit, Schwäche, ständiges Jammern, Pinkeln in Vorgärten etc.
Allerdings solltest du deine Charaktere nicht ausschließlich perfekt schön und toll machen (oder böse und abstoßend). Gib ihnen eine außergewöhnliche Eigenschaft, aber statte sie auch mit Schwächen und Stärken aus. Sonst wirken sie unecht und stoßen den Leser durch ihre makellose Perfektion eher ab oder wirken unglaubwürdig durch ihre abgrundtiefe Bosheit (siehe auch: Wer ist Mary Sue?).
Tipp 4: Gib deiner Figur einen starken Antrieb mit
Figuren müssen etwas wollen, sonst macht die ganze Romanhandlung keinen Sinn. Warum will der Kommissar seinen Fall unbedingt lösen? Klar, weil das sein Beruf ist, aber das reicht noch nicht. Gib ihm ein persönliches Interesse daran. Vielleicht, weil das entführte Mädchen seiner Nichte ähnelt, die vor zwölf Jahren ein ähnliches Schicksal erlitten hat und dabei getötet wurde. Dieses Den-Fall-lösen-wollen, dieses brennende Verlangen, das muss so stark sein, dass die Figur bis zum Ende des Romans dadurch angetrieben wird.
Würde der Kommissar den Fall nur lösen, weil das sein Beruf ist, dann wäre es für den Leser ziemlich langweilig. Es wäre mehr so ein Einblick in den Polizeialltag… und Alltag haben wir ja alle selbst genug. Hat der Kommissar aber noch andere, persönliche Gründe, die ihn antreiben, den Fall unbedingt lösen zu wollen, dann können wir uns besser mit der Figur identifizieren. Wir fiebern mit ihr und wünschen uns, dass sie ihr Ziel erreicht. Es ist unheimlich wichtig für deine Geschichte, dass deine Leser mit den Figuren hoffen und leiden. Dies gelingt unter anderem dadurch, dass du ihnen ein Ziel voranstellst, welches sie mit der Hartnäckigkeit eines Terriers verfolgen!
Je höher du dieses Ziel steckst, desto schwieriger wird es für deine Figur, dieses zu erreichen und desto mehr Widerstand und Konflikte sind zu erwarten. Und genau das wollen wir ja, möglichst viel Spannung beim Überwinden der Probleme, Raten und Knobeln. Wie geht es jetzt weiter, wie windet sich die Figur da wieder hinaus?
Tipp 5: Gib deiner Figur einen widersprüchlichen Charakterzug – vermeide Klischees
Bei der Entwicklung von glaubwürdigen, nicht stereotypen Figuren ist es manchmal schwierig, die Balance zwischen notwendigen Eigenschaften und nervtötenden Klischees zu finden. Denn natürlich brauchen wir Schriftsteller gewisse Eigenschaften, die einen bestimmten Charaktertyp ausmachen.
Trotzdem ist es oftmals einfacher, erst einmal über einen Archetypen (siehe auch: Was sind Archetypen?) in die Figurenentwicklung einzusteigen. Schreibst du eine Fantasy-Geschichte, so werden sich deine Figuren wahrscheinlich auf irgendeine Reise begeben und du benötigst eine typische Anführer-Figur. Soweit, sogut. Alle Anführer-Merkmale wie mutig, groß und stark, hübsch usw. bilden dann das Skelett deines Charakters.
Und dann kommt das Wichtigste: Um nicht in die Klischeefalle zu tappen, verpasst du deiner Figur eine gänzlich unerwartete Charaktereigenschaft. Zum Beispiel hat dieser supernette, tolle Anführer mit ab und zu auftretenden Panikattacken zu kämpfen. Es könnte ja sein, dass ihn die Verantwortung für die Gruppe nachts nicht schlafen lässt, und er krampfhaft versucht, diese Anfälle vor seinen Mitreisenden geheimzuhalten. Natürlich muss diese Angststörung oder allgemeiner, dieser widersprüchliche Charakterzug, auch irgendwie mit der Geschichte und dem Charakter an sich zu tun haben. Er muss bei aller Widersprüchlichkeit glaubhaft wirken, sonst wirkt er nur aufgesetzt und unglaubwürdig.
Beispielsweise würde den Leser mit Sicherheit eine Figur irritieren, die als knallharte Geschäftsperson agiert, andere skrupellos in die Pfanne haut, mehr und mehr Reichtümer anhäuft und dann gleichzeitig als barmherziger Samariter für die Armen dargestellt wird. Das passt nicht ganz zusammen. Da müsstest du dir schon eine sehr gute Erklärung ausdenken, wie die Figur das finanziell und emotional hinkriegt, sonst überzeugst du den Leser nicht.
Überlege besonders bei den widersprüchlichen Charakterzügen, ob sie plausibel sind, ob der Leser sie nachvollziehen kann und ob sie zur Geschichte passen.
Wie findest du widersprüchliche Charaktereigenschaften?
Vorhin sprachen wir von Archetypen, über die du einsteigen kannst. Es ist nämlich wunderbar möglich, mit diesem Grundgerüst glaubhafte Charaktere zu entwickeln, wenn man ein paar Dinge beachtet.
Nimm dir zwei oder mehrere Archetypen, notiere dir ein paar Charaktereigenschaften, die man ihnen landläufig zuschreibt und mische sie dann. Was kommt dabei heraus? Ist die Kombination glaubwürdig und sinnvoll? Nicht alles würde hier funktionieren, beispielsweise ein mutiger Anführer, der gleichzeitig schüchtern ist und kaum ein Wort herausbringt – hm, das wäre schwierig darzustellen. Vielleicht aber nicht unmöglich und vielleicht reizt dich gerade diese Kombination?
Pass aber auf, dass du dich nicht zu weit aus dem Fenster lehnst. Wenn man deiner Figur anmerkt, dass du sie ganz gewollt mit irgendeiner Eigenschaft ausgestattet hast, nur um zu zeigen, dass deine Figur auch ganz bestimmt nicht dem Klischee entspricht, dann hast du leider das Gegenteil von dem erreicht, was du eigentlich wolltest.
Fazit: Um nicht in die Klischeefalle zu tappen, gib deinen Charakteren unerwartete Kombinationen von Eigenschaften, die in der Erzählung auch mal für Überraschungen und/ oder lustige Situationen sorgen. Je außergewöhnlicher – aber immer glaubhaft! – diese Situationen sind, desto eher bleiben sie dem Leser im Gedächntnis, lassen ihn schmunzeln oder staunen.