Mary Sue ist jung, besitzt eine perfekte Figur, wunderschöne Haare und ist natürlich eine außergewöhnliche Schönheit. Damit nicht genug, auch charakterlich ist sie einfach toll, obwohl sie herausragende Fähigkeiten besitzt (z.B. kann sie Telepathie, Karate, Boxen, zeichnet sich trotz ihrer Jugend durch ungeheures Fachwissen aus und/oder eine hohe berufliche Position, und so weiter).
Sie bildet sich überhaupt nichts auf ihre tollen Fähigkeiten ein, sondern ist bescheiden, findet sich selbst nur mittelmäßig (obwohl sie doch alles kann) und fragt sich arglos, ob sie den tollen Mann an ihrer Seite auch verdient hat. Denn natürlich ist sie auch bei allen beliebt und geschätzt und sämtliche Männer stehen auf sie, besonders natürlich der Alpha-Mann.
Alle bewundern sie und jeder mag sie. Sie ist natürlich diejenige, die alle aus brenzligen Situationen herausführt, das Haustier rettet und nebenbei noch die Welt. Ach ja, und umgekehrt, wenn Mary Sue in Not ist, machen sich natürlich alle auf, um sie zu retten und riskieren dabei Kopf und Kragen.
Natürlich kann sie auch kleinere Fehler haben, aber das sind dann solche, die man leicht verzeiht und gar noch süß findet.
Eine Mary Sue handelt nicht immer logisch. Und die Handlung, die vielleicht sogar recht dürftig erscheint, dreht sich vor allem um Mary Sue.
Also, alle lieben Mary Sue.
Wirklich alle? Die Leser meistens nicht. Solche perfekten Figuren nerven und sind wirklich der Albtraum, weil sie einfach wie Barbiepuppen wirken, unecht und unrealistisch. Man möchte sie am liebsten packen und schütteln, damit sie wenigstens einmal so handeln, wie es der Wirklichkeit entspricht.
Ich wage mal die Behauptung, dass ein großer Prozentsatz der (jugendlichen) Schreibanfänger schon einmal in die Mary-Sue-Falle getappt ist. Mich nehme ich da gar nicht aus. Ich habe auch schon wunderbar typische Mary Sues erschaffen, die mir heute die Zehennägel aufrollen.
Wieso heißt Mary Sue eigentlich Mary Sue?
Der Name kommt aus der US-Serie Raumschiff Enterprise und gehörte einer Halbvulkanierin, die eben diese oben genannten Eigenschaften alle aufwies. Sprich, sie war außergewöhnlich attraktiv, mutig und ihren vorgesetzten Offizieren Kirk und Spock haushoch überlegen. Sie rettete in einem selbstlosen Einsatz die Crew und das Schiff und kam dabei tragisch ums Leben.
So kamen die Mary Sues auf dieser Welt zu ihrem Namen.
Wieso erschaffen Autoren Mary Sues?
Meistens geschieht dies aus Mangel an Erfahrung und zudem unbewusst. Zumindest kenne ich niemanden, der absichtlich einen so abschreckend perfekten Charakter aus der Erde stampft (höchstens als Parodie). Mary Sues sind Romanfiguren, auf die der Autor bzw. die Autorin eigene Sehnsüchte und Wünsche projiziert („so wäre ich gerne“) und dabei übersieht, dass niemand so dermaßen perfekt ist und vor allem, dass solche Personen nicht als sympathisch empfunden werden.
Obwohl eigentlich genau das erreicht werden wollte. Ecken und Kanten machen eine Figur realistisch und wenn sie fehlen oder aufgesetzt wirken, ruft so eine Figur eher Abwehr oder gar Abscheu hervor. Und da Mary Sues von Anbeginn einfach perfekt sind, machen sie auch normalerweise keine Entwicklung im Roman durch, was aber ein wichtiger Punkt wäre, um Glaubwürdigkeit zu erreichen.
Natürlich sind nicht nur weibliche Figuren Mary Sues. Das männliche Pendant wird Gary Stu genannt und weist natürlich alle männlichen tollen Eigenschaften auf, die man sich nur vorstellen kann. Und um bei Star Trek zu bleiben, hier fällt mir gleich Wesley Crusher ein, der tolle talentierte Nachwuchsjunge, der alles kann, pausenlos das Schiff rettet und so wunderbar ist, dass sich in den USA gar „Anti-Wesley-Clubs“ gebildet haben, da die Zuschauer die Darstellung dieses perfekten Charakters im Kopf nicht aushalten konnten.
Wie kann ich eine Mary Sue vermeiden?
Gute Figuren besitzen Ecken und Kanten, vereinen das Gute und das Böse, tragen Licht- und Schattenseiten in sich. So ist es ja auch bei realen Menschen. Manche zeigen tendenziell eher ihre Schokoladenseite, manche halt andersherum. Aber nur „gut“ ist eben niemand, und so solltest du auch deine Charaktere konzipieren.
Gib einer Figur echte Fehler und Schwächen und mit echt meine ich nicht, dass sie es hasst, wie sich ihre tollen blonden Locken kringeln. Sondern dass sie zum Beispiel auf einer Geburtstagsparty raucht und säuft bis zur Bewusstlosigkeit oder Nachbars Katze schon mal getreten hat (pfui!) oder kein Wort herausbringt, wenn man mit ihr schimpft und sich total demütigen lässt. Eben echte Fehler und Schwächen.
Echte Fehler und Schwächen haben auch den Vorteil, dass sie Konflikte in deine Geschichte hineinbringen, denn worüber willst du schreiben, wenn Mary Sue für alles schon eine Lösung parat hat? Negative Charaktereigenschaften bieten Reibung und damit Spannung und bewahren dich davor, die Handlung einfach platt und vorhersehbar dahinplätschern zu lassen.
Romanfiguren sind auch nur Menschen…
Und als wichtigster Ratschlag: Lass dir Zeit bei der Charakterentwicklung. Schustere nicht irgendwelche Charaktereigenschaften zusammen, die sich nicht miteinander verzahnen. Die Gefahr, dass dabei Mary-Sue-ähnliche Figuren herauskommen, ist wirklich groß. Tipps, wie du wirklich unverwechselbare Charaktere entwickelst, findest du z.B. hier. Die Zeit, die du am Anfang investierst, zahlt sich am Ende mit lebendigen, wirklichkeitsnahen und tiefen Figuren aus, die deinen Lesern im Gedächtnis bleiben. Und zwar im positiven Sinne.