Sollte ich meiner Hauptfigur negative Eigenschaften geben?

Sollte ich meiner Hauptfigur negative Eigenschaften geben?

Um die Frage gleich vorweg zu beantworten: Ja, natürlich solltest du deiner Hauptfigur auch negative Eigenschaften geben. Warum? Darüber will ich in diesem Artikel schreiben.

Ein gutes Buch steht und fällt mit den Charakteren, daher sollte man sich bei ihrer Ausarbeitung ganz besondere Mühe geben.

Wenn du möchtest, dass deine Leserinnen und Leser deine Hauptperson mögen und gut finden, solltest du dir keinen unfehlbaren Superhelden ausdenken. Warum sogenannte Mary Sues und Gary Stues in der Bücherwelt nicht ideal sind, beziehungsweise sogar negative Gefühle bei den Leserinnen erzeugen, habe ich hier beschrieben.

Um eine möglichst realistische Figur zu erschaffen, sollte sie neben herausragenden guten Eigenschaften auch Ecken und Kanten haben. Denn kein Mensch ist perfekt. Die Figur muss sich wie ein echter Mensch anfühlen, und dazu gehören auch Fehler.

Negative Eigenschaften

Darum soll es heute gehen, um die negativen Eigenschaften einer Hauptfigur.

Und zwar um die richtig negativen Seiten, nicht etwa Pseudo-Schwächen wie »Anette hielt sich für hässlich, war aber in Wirklichkeit wunderschön« oder »Rupert war schon immer schüchtern, wenn es um Mädchen ging«.

Mir ist aufgefallen, dass die Helden in manchen Romanen mit Schwächen ausgestattet werden, die im Auge der Leserinnen und Leser irgendwie noch »Gnade« finden, also das schon oben erwähnte Mauerblümchen oder, wenn es mal eine etwas härtere Schwäche sein soll, der Kommissar, der sich (aus Liebeskummer – also einem Grund, für den nahezu jeder Verständnis findet) dem Alkohol ergeben hat.

Nein. Das ist nicht gemeint, auch wenn man das natürlich machen kann, wenn man es gut umsetzt. Aber erstens ist das schon zigmal dagewesen (hier zum Artikel über Klischees). Und zweitens musst du aufpassen, dass diese Charakterschwächen auch glaubhaft transportierst. Wenn dein betrunkener Kommissar normalerweise nach 20 Uhr keinen Fuß mehr vor den anderen setzen kann, darf er das auch nicht machen, wenn der Verbrecher seine Angebetete entführt. Dann muss er eben an seinem Versagen zerbrechen (oder daran wachsen) und die Angebetete wird umgebracht, anstatt von ihm im richtigen Moment gerettet zu werden.

Negative Eigenschaften sollten die Figur in echte Schwierigkeiten bringen

Um bei dem Beispiel des betrunkenen Kommissars zu bleiben, müsste sein Alkoholismus also echte Konsequenzen haben.

Ihn beispielsweise den Job kosten. Das wäre mal wirklich realistisch … allerdings wäre er dann auch kein idealer Protagonist für einen Krimi, weil ihm dann der Fall entzogen wäre. Also zu sehr übertreiben mit den schlechten Charaktereigenschaften sollte man es auch nicht, sonst sabotiert man seine eigene Geschichte.

Viele Autoren haben Angst, dass diese wirklich schlechten Charaktereigenschaften die Leser vergraulen. Das ist natürlich eine echte Gefahr, wenn zu dick aufgetragen wird.

Eine mögliche Lösung wäre hier, dass der Kommissar, nachdem er seinen Job verloren hat, auf irgendeine Weise das Ruder herumreißt und seine Schwäche überwindet. Da ist Alkoholismus allerdings ein eher schlechtes Beispiel, denn ohne eiserne Disziplin und wahrscheinlich auch professionelle Hilfe ist das schwer zu schaffen. Da muss man aufpassen, dass es nicht unglaubwürdig wirkt und für echte Opfer von Alkoholismus nicht wie ein Schlag ins Gesicht daherkommt. Wenn er allerdings wirklich tief in den Sumpf gefallen ist und hart daran arbeitet, wieder herauszukommen, sind die Leserinnen womöglich bereit, ihm die Mitschuld am Tod seiner Angebetenen zu vergeben.

Negative Eigenschaften, die zu vermeiden sind

Es gibt negative Charaktereigenschaften, die überhaupt nicht zu einem Protagonisten passen, sondern eher zum Antagonisten, weil sie einfach nicht verziehen werden können. Das sind so furchtbare Dinge wie andere Menschen oder Tiere oder gar Kinder aus Lust quälen. Sicherlich gibt es Möglichkeiten, auch solche Menschen im Roman zu läutern und ihre Entwicklung positiv darzustellen, aber ich würde das niemandem empfehlen, außer du kennst dich damit sehr gut aus und bist in der Lage, so eine Entwicklung mit der entsprechenden Sorgsamkeit darzustellen.

Nicht zu positiv, aber auch nicht zu negativ

Es gibt genug unangenehme Charaktereigenschaften, die sich quasi im Mittelfeld befinden. Also nicht zu schlimm sind, aber auch nicht so, dass man lächelnd darüber hinwegsieht.

Wichtig wäre auch, dass du als Autor deine Figur grundsätzlich magst. Daher ist es nicht empfehlenswert, sie mit Eigenschaften auszustatten, die du selbst nicht ausstehen und auch nur schwer verzeihen kannst. Das hat natürlich viel mit deiner eigenen Persönlichkeit zu tun, aber es ist schließlich auch deine Geschichte.

Tipp: Vielleicht hast du selbst oder jemanden, den du kennst und (trotzdem) sehr magst, eine schlechte Eigenschaft, an der du oder der andere hart arbeite(s)t. Versuche doch mal, deine Figur mit einer solchen Schwäche auszustatten, denn mit einer solchen kennst du dich schätzungsweise ziemlich gut aus.

Trotz schlechter Charaktereigenschaften Sympathien entwickeln

Kommen wir zum wichtigsten Punkt. Damit die Leserin nicht angewidert das Buch zuschlägt, sondern den Protagonisten trotzdem mag, muss sie trotz seiner schlechten Seiten für ihn Sympathien entwickeln.

Das schaffst du, indem du dafür sorgst, dass seine negativen Eigenschaften nachvollziehbar sind. Gib der Figur eine Vergangenheit, die erklärt, woher die fiese Seite kommt. Zeig, warum sie so handelt. Der Leser versteht die Gründe für das schlechte Benehmen und/oder kann es am eigenen Leib nachvollziehen. Im besten Fall denkt er, ja, mir geht es auch oft so. Das tröstet und macht die Figur sympathischer.

Natürlich musst du aber dafür sorgen, dass die Figur ihren Fehler auch einsieht und ihre Entwicklung in die Richtung geht, dass sie die schlechte Eigenschaft auch überwindet. Oder zumindest dass sie anfängt, daran zu arbeiten. Beim Beispiel unseres betrunkenen Kommissars wäre es natürlich toll, wenn er von heute auf morgen beschließt, nicht mehr zu trinken, aber wie gesagt, das wäre recht unglaubwürdig. Lass ihn ruhig Fehlschläge und Rückfälle erleiden, aber ihn dann wieder aufstehen und weiter in die richtige Richtung gehen. Das gibt den Lesern Mut und macht Hoffnung, dass es möglich ist, an den eigenen Schwächen zu arbeiten. Sie leiden mit ihm mit und hoffen, dass er es am Ende schafft.

Welche negative Eigenschaft darf es denn nun sein?

Das kommt ganz auf deine Figur an. Es muss zum Plot und zur Persönlichkeit des Protagonisten passen. Überlege also mal, was in seiner Vergangenheit geschehen sein könnte. Was hat er erlebt, Schlimmes und Schönes, was davon hat ihn geprägt und warum ist er heute so, wie er ist?

Das erfordert ein bisschen Denkarbeit, ist aber unbedingt nötig, um realistische Figuren zu erschaffen. Denn nur zu beschließen, dass deine Figur unterwürfig und passiv ist, überzeugt nicht. Wenn die Leser aber erfahren, dass sie aufgrund eines dominanten Vaters oder einer gewaltsamen Mutter so geworden ist, weiß man erstens, wieso die Figur so geworden ist, und zweitens weißt du als Autor, wo du bei der Entwicklung der Figur ansetzen musst – nämlich in der Beziehung zu den Eltern.

Es könnte zum Beispiel sein, dass der Held, der sich nicht gegen seine rabiate Ehefrau durchsetzen kann und darunter leidet, dass er immer derjenige ist, der sich um Haushalt und Kinder kümmern muss, miterlebt, wie sich sein unterdrückter Vater emanzipiert, nachdem die Mutter gestorben ist und er eine neue Partnerin gefunden hat. So könnte er beschließen, sich entweder ebenfalls zu trennen oder all seinen Mut zusammenzunehmen und NEIN zu sagen.

Das ist bestimmt ein schrecklich klischeehaftes Beispiel (wenn auch anders herum, als wir es gewohnt sind), aber du verstehst, was ich meine. Die negative Eigenschaft der Unterwürfigkeit macht hier der Figur selbst Probleme, nicht nur den Menschen in ihrer Umwelt. Sprich, der Held muss gegen sich selbst kämpfen, was der Erfahrung nach mehr Sympathiepunkte bei den Leserinnen und Lesern bewirkt, als wenn er nur „von außen“ einsieht, dass er sich ändern muss.

Fazit

Hier noch einmal eine kleine Zusammenfassung:

  • Gib deiner Figur echte Fehler, keine Pseudo-Fehler!
  • Wähle Fehler, die es dem Leser ermöglichen, sich mit der Figur zu identifizieren! Also keine wirklich schlimmen Charaktereigenschaften, aber auch keine Fehler, die nur die Oberfläche der Figur ankratzen.
  • Wähle negative Eigenschaften, die plotrelevante Probleme nach sich ziehen.
  • Lass die Leser an der Vergangenheit der Figur teilhaben, die erklärt, warum die Figur so ein schlechtes Benehmen hat.
  • Lass die Figur ruhig mit ihren Fehlern Niederlagen erleiden.
  • Mach es der Figur nicht zu leicht, ihre Fehler zu überwinden. Bleib glaubhaft. Fehler müssen auch nicht komplett ausgemerzt werden, es genügt manchmal, wenn die Figur ernsthaft daran arbeitet.

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