Was austauschbare Charaktere sind … und warum sie in deinem Roman nichts zu suchen haben

Bild mit austauschbaren Charakteren

Ich finde, man kann nie genug über Charakterentwicklung sprechen. Selbst jetzt, beim Schreiben meines sechsten Romans, kämpfe ich mit einem Phänomen, das unerfahrenen Autoren nur allzu bekannt sein dürfte – austauschbare Charaktere.

 

Die Charaktere sind mehr oder weniger austauschbar

Durch was unterscheiden sich deine Charaktere? Nur durch ihren Namen? Vielleicht noch durch ihr unterschiedliches Geschlecht und Alter? Oder durch die Haarfarbe?

Das ist viel zu wenig.

In meinem geplanten Roman kommen sehr viele Personen vor. Gerade deshalb ist es wichtig, dass die Leserin mit jeder einzelnen Figur etwas verbindet, am besten etwas Einzigartiges.

Natürlich ist das umso wichtiger, je mehr Raum die entsprechende Person in deiner Geschichte einnimmt. Bei Nebenfiguren, die vielleicht ein- oder zweimal erwähnt werden, genügen möglicherweise obige Kriterien. (Aber selbst da macht es Spaß, originelle Figuren zu erfinden. Ich hatte einmal einen Taxifahrer, der eigentlich nur meine Prota zum Flughafen bringen sollte. Dieser Taxifahrer hat für interessanten Gesprächsstoff zwischen mir und zwei meiner Testleserinnen gesorgt.)

 

Warum schmuggeln sich austauschbare Charaktere in deine Geschichte?

 Grund 1:

 Der banalste Grund, aber leider auch der häufigste. Du gibst dir keine Mühe, deine Charaktere einzigartig zu machen. Es ist dir zu viel Arbeit! Lieber startest du gleich mit dem Schreiben und hoffst, dass sich die Charaktere vielleicht während des Schreibprozesses genügend entwickeln. Meist ist das jedoch ein Trugschluss.

 Grund 2:

Wenn man sich eine Geschichte ausdenkt, kommen einem besonders am Anfang klischeehafte Figuren in den Kopf.

Das ist nahezu unvermeidlich, denn wir alle sind von tausenden Geschichten geprägt, die wir im Laufe der Zeit gelesen haben. Manchmal findet man auch eine Figur in einem Roman toll und möchte ebenso eine erschaffen.

Wenn du diesen Charakter jetzt einfach so stehen lässt und nichts an ihm veränderst, ist es kein Wunder, dass er austauschbar wirkt. Er ist es nämlich.

Grund 3:

Nahezu alle Figuren einer Geschichte lassen sich auf bestimmte Archetypen herunterbrechen. Hier habe ich einen Artikel darüber geschrieben, falls du noch nicht weißt, was Archetypen sind.

In jedem Roman tauchen sie auf, die weisen Mentoren (z.B. Dumbledore), die Trickster (das kann z.B. in einem Liebesroman auch die lustige, etwas verpeilte Freundin der Prota sein), und natürlich die Schatten, sprich der Antagonist.

Selbstverständlich brauchen wir diese Figuren, sonst wären die Archetypen nicht über Jahrtausende hinweg so erfolgreich. Aber den tausendsten Dumbledore brauchen wir eben nicht. Da muss etwas Originelleres her.

Grund 4:

Du hast eine Vorliebe für bestimmte Typen von Figuren.

Dies betrifft dann eher die Vielschreiber unter uns Autoren, die immer wieder die gleiche Art (Haupt-)Figuren in ihren Romanen auftreten lassen. Das kann damit zu tun haben, dass wir uns in einen ganz bestimmten Typus Mensch besser hineinversetzen können als in andere. Es fällt uns leichter, Dinge zu beschreiben, die wir kennen. So entstehen zwar gute, aber leider immer gleichartige Charaktere. Im Prinzip ist das nicht schlimm. Während einige Fans von dir genau aus diesem Grund ein Buch nach dem anderen von dir kaufen, wenden sich andere irgendwann gelangweilt ab. Immer die gleiche Soße!

 

Austauschbare Charaktere von Roman zu Roman

Grund 4, also das Mitschleppen eines bestimmten Typs von Figur von Roman zu Roman ist zwar nicht so geschickt, aber auch nicht tragisch. Wenn man Gefallen an einem bestimmten Protagonistenbild gefunden hat, kann man immer noch durch ein anderes Setting, einen anders gestrickten Plot und abwechslungsreiche Nebenfiguren ausreichend variieren, um keine Langeweile aufkommen zu lassen. Möglicherweise ist dieser Typus ja auch dein Erfolgsrezept.

Wenn du trotzdem der Meinung bist, dass deine Romane hier eine Schwäche aufweisen, dann solltest du dich fragen, warum du ständig über diesen gleichen Figurentyp schreibst. Womöglich ähneln sich nicht nur deine Figuren, sondern auch die Prämisse, das Setting oder allgemein die Themen deiner Romane. Vielleicht hast du etwas in deinem Leben aufzuarbeiten, weshalb du immer wieder auf die gleichen Dinge zurückkommst. Wenn du erkannt hast, woran es hakt, bist du der Lösung bestimmt nahe.

 

Austauschbare Charaktere innerhalb eines Romans

Fatal ist es, wenn sich innerhalb eines Romans die Figuren kaum unterscheiden. Das ist IMMER etwas, was du ändern musst!

Gute Romane zeichnen sich unter anderem dadurch aus, dass einem die Personen im Gedächtnis bleiben, und das funktioniert nur, wenn sie individuelle Eigenschaften haben, aus der Masse herausstechen und von den Lesenden geliebt werden.

Gerade wenn man aus mehreren Perspektiven schreibt, ist die Unterscheidung der POV-Figuren (Point-Of-View) immens wichtig. Dazu gehören zum Beispiel:

  • unterschiedliche Wertvorstellungen der Figuren
  • andere Charaktereigenschaften, die sie völlig anders handeln lassen
  • und nicht zuletzt eine andere Sprache,

die den Leser sofort merken lässt, wenn die Perspektive wechselt.

An dieser Stelle verweise ich auf meine anderen Artikel zur Charakterentwicklung, z.B. dieser hier und dieser hier. Dort habe ich schon ein paar Methoden aufgezeigt, wie man Charaktere besonders machen kann.

 

Was also tun?

Hier möchte ich noch einmal eine Art Maßnahmenplan beschreiben, was du tun kannst, wenn du austauschbare Charaktere bei der Überarbeitung deines Romans entdeckst oder wenn du von deinen Testleser*innen darauf hingewiesen wirst. Besser ist es natürlich, austauschbare Charaktere von Anfang an zu vermeiden!

  1. Nimm jede deiner Figuren unter die Lupe und mach dir klar, welche Archetypen bzw. Klischees sie darstellen. Hast du diese Archtypen und Klischees erweitert/verändert, um die Figuren zu etwas Einzigartigem zu machen?
  2. Dann frage dich, ob sie für die Geschichte nötig Wenn du beispielsweise gleich zwei Trickster  hast, was würde passieren, wenn du einen herausnimmst? Vielleicht ist es besser, die beiden Figuren zu einer einzigen zu verschmelzen?
  3. Als nächstes verpasst du deiner Figur eine ganz besondere Eigenheit, anhand derer die Leserin sofort erkennt, aha, hier haben wir es mit XY zu tun. Das kann die gelbe Brille sein, an der Tante Edith immer herumfummelt, es kann aber auch der Waschzwang von Emil sein. Oder der Jähzorn von Erika. Denke bei diesem Punkt daran, dass diese Eigenheit von dir gezeigt werden sollte, nicht erzählt (show, don’t tell). Gehe deinen Text auf Möglichkeiten durch, wo du diese Eigenarten einfügen könntest. Ganz besonders clever ist es, wenn diese Eigenheiten/Accessoires etwas mit der Geschichte zu tun haben. Beispielsweise, wenn das Opfer am Ende des Romans an der gelbe Brille erkennt, dass Tante Edith die Täterin war (ganz plump, aber du weißt, was ich meine).
  4. Als nächsten Schritt nimm dir die Sprechweise deiner Figur vor. Tipp: Achte mal darauf, wie unterschiedlich die Menschen in deinem Umfeld sprechen, langsam, leise, durchdringend, näselnd, manche haben nervige Lieblingswörter … da gibt es tolle Beispiele, die du nutzen solltest.
  5. Überprüfe, ob jede deiner Figuren ein bestimmtes Ziel hat, das sich möglichst von dem der anderen unterscheidet. Also wenn Anna unbedingt Tim will, weil sie auf seinen braunen Schopf steht, sollte Luise aber, die zwar auch Tim will, vorrangig sein Geld im Kopf haben. Und Erika will eigentlich nicht Tim, sondern Oliver, weiß es aber selbst noch nicht … Lass die Charaktere auf dieses Ziel hinarbeiten, das macht sie zu aktiven Figuren und damit attraktiv für die Leser.

 

Das ist so viel Arbeit!

Ja, denn im Prinzip betrifft das Problem nicht nur die Hauptfiguren. Diese müssen natürlich ganz besonders individualisiert werden. Aber da wir ja alle das Ziel haben, richtig tolle Romane zu schreiben, muss man sich auch mit den Nebenfiguren befassen. Leider merken Lesende sofort, an welcher Stelle der Autor oder die Autorin faul geblieben ist.

Eine recht effektive, wenn auch arbeitsintensive Methode ist es, auch deinen Nebenfiguren eine kleine Hintergrundgeschichte zu geben. Wo kommt sie her oder wie ist sie aufgewachsen, warum hat sie diesen Tick, etc. Das muss nicht mal in die Tiefe gehen, da reichen ein paar Daten und Fakten, um zu wissen, wie eine Person, die vorher nur aus Name, Haar- und Augenfarbe bestand, in bestimmten Situationen glaubhaft handelt und somit fassbar wird. Zäume hier am besten das Pferd von hinten auf, sprich, wie hättest du die Person gerne? Dann gib ihr den passenden Hintergrund und voila, die Person wird für diesen Anlass greifbar. Nicht für alle Situationen, wohlgemerkt. Dazu müsste man schon etwas mehr in die Tiefe gehen. Diese Arbeit spare dir lieber für die Hauptfiguren auf.

 

Der letzte Schritt

Um austauschbare Charaktere zu vermeiden, genügt es nicht, dass sie auf deinem Charakterblatt unterschiedliche Eigenheiten haben.

Das Allerwichtigste ist, dass dein Text das rüberbringt. Leider leiden wir Autoren, wenn wir uns Tage, Wochen und Monate mit unserem Roman auseinandergesetzt haben, unter einer schrecklichen Betriebsblindheit. Sprich, wir sind nicht mehr in der Lage, unseren Text neutral zu beurteilen. Haben wir es geschafft, die Figuren unterschiedlich und großartig zu gestalten oder ist das womöglich nur in unserem Kopf so passiert? Wie kommt der Text beim Leser an? Beziehungsweise in unserem Fall: Wie wirken die Figuren auf den Leser?

Daher solltest du unbedingt im letzten Schritt Testleser über deinen Roman lesen lassen. Sie können dir unvoreingenommen Feedback geben, ob deine Figuren überzeugen oder nicht.

 

Bonustipp

Es kann bei der Figurenentwicklung hilfreich sein, sich mit verschiedenen Persönlichkeitsmodellen zu beschäftigen. So erhältst du Einblick in unterschiedliche Verhaltensmuster und Charaktere. Wenn du nämlich weißt, wie die verschiedenen Menschen ticken, kannst du dich besser in sie hineinversetzen und sie demnach besser beschreiben.

Schmuggeln sich bei dir auch manchmal austauschbare Charaktere in deine Geschichten? Wie gehst du vor, wenn du merkst, da ist so ein Kandidat? Schreib es gerne in die Kommentare.

One thought on “Was austauschbare Charaktere sind … und warum sie in deinem Roman nichts zu suchen haben

  1. Balduin

    Juni 9, 2022 at 4:56pm

    Das ist ein wirklich extrem hilfreicher Text! Kann man auch super für die Erstellung von Rollenspiel-Abenteuern gebrauchen. Danke!

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